Foto: IFU / MN Coil Servicecenter

Umformtechnik

HSC-Platinenschneiden reduziert Kantenrissempfindlichkeit

Innovatives HSC-Platinenschneiden reduziert die Kantenrissempfindlichkeit von Formplatinen und ermöglicht neue Blechbauteilspektren.

Der Einfluss des HSC-Platinenschneidens auf die Kantenrissempfindlichkeit von Formplatinen wurden gemeinsam vom Institut für Umformtechnik der Universität Stuttgart (IFU), der Forschungsgesellschaft Umformtechnik mbH (FGU) und dem MN Coil Servicecenter GmbH untersucht.

Die Kantenrissempfindlichkeit von Stahl- und Aluminiumwerkstoffen bildet bis heute einen der wesentlichen Versagensgründe bei der umformenden Herstellung von Blechbauteilen und stellt somit produzierende Unternehmen in diesem Bereich immer wieder vor große Herausforderungen. Durch den innovativen HSC-Fräsprozess der MN Coil Servicecenter GmbH zur Herstellung von Formplatinen kann diese Kantenrissempfindlichkeit nun signifikant reduziert werden. Werkstoffuntersuchungen zur Kantenrissempfindlichkeit haben diesbezüglich gezeigt, dass im Vergleich zum konventionellen Scherschneiden, dem Wasserstrahl- und dem Laserstrahlschneiden mit dem HSC-Verfahren nachweislich die besten Resultate erzielt werden können.

Stand der Technik

Vor dem Umformen und Tiefziehen von Karosserie- und Blechbauteilen müssen häufig Formplatinen aus einem Coil oder aus Blechtafeln geschnitten werden. Für diesen Trennvorgang wird meist das Verfahren des Scherschneidens herangezogen, da hierbei mit kurzen Prozesszeiten eine wirtschaftliche Herstellung von Formplatinen möglich ist. Nachteilig am Scherschneiden ist jedoch, dass durch den Trennprozess das Materialgefüge am Platinenrand als Folge von lokalen Umformungen erheblich vorbelastet wird [Lan90, Doe10]. Das (Rest-)Umformvermögen an der Schereinflusszone wird dadurch reduziert und die Rissgefahr erhöht [Glä13]. Die deformierte Schereinflusszone enthält stark kaltverfestigte Randzonen [Dit17, Hel09], welche sich je nach Material und Schneidparameter bis zu mehreren Zehntel-Millimetern in Platinenrichtung erstrecken können [Glä13]. Werden Schnittkanten nach dem Scherschneiden umgeformt, so besteht daher die Gefahr einer unerwünschten Rissbildung, ausgehend von der Bauteilkante (vgl. Abbildung 1).

Als kantenrisssensitiv gelten insbesondere moderne Leichtbauwerkstoffe wie beispielsweise hochfeste Blechgüten [Bai16, Fed18 ] oder auch Aluminiumwerkstoffe. Experimentell lässt sich die Kantenrisssensitivität von Blechwerkstoffen mit Hilfe unterschiedlicher Charakterisierungsversuche ermitteln. Für die Untersuchung geschlossener Schnittlinien wird häufig der Lochaufweitungsversuch nach ISO16630 herangezogen. Bei offener (gerader) Schnittlinie kann demgegenüber der am Institut für Umformtechnik der Universität Stuttgart entwickelte und in Abbildung 2 dargestellte Diabolo-Versuch zur Charakterisierung der (schergeschnittenen) Blechbauteilkanten verwendet werden [Lie13]. Hierbei wird ein Blechstreifen über einen diaboloförmigen Prüfkörper gezogen, wodurch Zugspannungen im Randbereich des Probenkörpers entstehen. Der Versuch ist beendet, sobald mittels eines optischen Messsystems ein Riss am Rand des Blechstreifens detektiert wird. Die Auswertung der im Grenzfall (d.h. kurz vor Riss) gemessenen Hauptumformgrade erfolgt üblicherweise mit dem Messsystem GOM-ARAMIS.

Aus dem Stand der Technik ist bekannt, dass die frühzeitige Entstehung von Kantenrissen von der Wahl des Fertigungsverfahrens der Schnittkanten abhängt [Han13]. Während schergeschnittene Bauteilkanten aufgrund der vorbelasteten Randzonen bei vergleichsweise niedrigen Dehnungswerten zu Kantenrissen neigen, so erfolgt die Entstehung von Kantenrissen bei gefrästen [Fei16], drahterodierten [Hab19] oder laserstrahlgeschnittenen [Aut19] Blechplatinen erst bei vergleichsweise höheren Dehnungswerten.

Innovatives HSC-Fertigungsverfahren für Formplatinen

Im Jahr 2013 wurde von der MN Coil Servicecenter GmbH ein innovatives High-Speed-Cutting Verfahren für Blechplatinen patentiert, welches für die Erzeugung hochpräziser Schnittkanten geeignet ist. Das Verfahren kann für Blechdicken zwischen 0,5 mm bis 5,0 mm flexibel eingesetzt werden. Eine am Fräskopf positionierte Absaugglocke entfernt Verunreinigungen während des Fräsens von der Platinenoberfläche. Die wesentliche Eigenschaft des Verfahrens besteht somit in der Kombination aus High-Speed-Cutting und der genannten Schmutzabsaugung. Ein weiterer Vorteil gegenüber konventionellen Schneidtechnologien liegt in der innovativen Spanntechnik der Platine auf dem Arbeitstisch. Gegenüber den üblicherweise eingesetzten Fakir-Vakuum-Tischen entstehen keinerlei Beschädigungen oder sonstige Oberflächenbeeinträchtigungen an der Platine [Bec13]. Ein großer Vorteil dieses werkzeugungebundenen Trennverfahrens liegt in der Fle-xibilität und dem hohen Automatisierungsgrad, der es erlaubt selbst kleine Losgrößen schnell und kostengünstig herzustellen und zu liefern. Bei Losgrößen bis zu 50.000 Stück pro Jahr ist dieses Verfahren kostengünstiger als die konventionelle Herstellung mittels Schneidwerkzeugen und erscheint somit vor allem mit zunehmender Modell- und Variantenvielfalt der Fahrzeuge für zahlreiche Unternehmen als attraktiv. Wie im nachfolgenden Abschnitt dargestellt wird, weisen die mit dem HSC-Verfahren ge-schnittenen Kanten darüber hinaus eine deutlich reduzierte Kantenrisssensitivität gegenüber scher-, wasserstrahl- und lasergeschnittenen Blechkanten auf.

HSC-Fertigungsverfahren im Vergleich mit dem Laserstrahl-, Wasserstrahl und Scherschneiden

Der Diaboloversuch ermöglicht eine vergleichende Bewertung der Kantenrisssensitivität von unterschiedlich geschnittenen Blechkanten. Diesbezüglich wurde an der Forschungsgesellschaft Umformtechnik mbH in Stuttgart eine umfangreiche Kantenrissstudie durchgeführt. Einen Überblick über die in dieser Studie untersuchten Versuchsparameter gibt Tabelle 1.

Da Scherschneidwerkzeuge (WZG) mit einer fortschreitenden Anzahl an Pressenhüben zu Schneidkantenverschleiß bzw. Schneidkantenverrundungen neigen, wurden zwei Spezifikationen für Schneidkantenzustände (neu & alt) untersucht. Die Spezifikation „WZG neu“ beinhaltet scharfkantige Schneidmesser ohne messbaren Schneidkantenradius. Die Spezifikation „WZG alt“ berücksichtigt den Einfluss verschlissener Schneidkanten. Hierzu wurden Schneidmesser mit einer definierten Verrundung (84 μm) an der Scheidkante verwendet. Einen vollständigen Überblick über die gewählten Schneidparameter zeigt Tabelle 2.

Die gemittelte logarithmische Hauptformänderung kurz vor dem Versagen der untersuchten Proben ist in Abbildung 3 jeweils in Form eines Balkendiagramms mit entsprechender Streuung der Versuchsergebnisse graphisch dargestellt. Die höchste logarithmische Formänderung respektive die höchste Restumformbarkeit ist stets bei jenen Proben festzustellen, die mittels des HSC-Fräsverfahrens hergestellt wurden. Das von MN Coil Servicecenter entwickelte und für die Herstellung von Formplatinen eingesetzte HSC-Verfahren stellt demnach das Beste unter den hier untersuchten Schneidverfahren dar. Akzeptable Ergebnisse wurden ebenfalls mit lasergeschnittenen Proben erzielt. Diese weisen jedoch im Schnitt immer noch eine um 20 % geringere Restumformbarkeit im Vergleich zum HSC-Verfahren auf. Erwartungsgemäß erreichen die schergeschnittenen Proben die geringsten logarithmischen Formänderungen.

Um die sich ergebenden potentiellen Vorteile des HSC-Verfahrens herauszuarbeiten, wurde zudem die in Abbildung 4 dargestellte Tiefziehsimulation mit Hilfe der Software AutoForm R7 aufgebaut. Am Beispiel eines Ziehteils mit offenem Kopf ist es mit den resultierenden Simulationsergebnissen möglich, die Risikowahrschein-lichkeit eines Kantenrisses bei schergeschnittener und gefräster Platinenkante nachzuvollziehen. In der Beispielsimulation wird für die schergeschnittene Kante ein Riss vorhergesagt („Edge Crack“ > 1), wohingegen das umgeformte Bauteil mit gefräster Platinenkante noch eine hohe Restumformbarkeit und einen „Edge Crack“ Wert von 0,624 aufweist.

Während die Herstellung des dargestellten Ziehteils mit schergeschnittenen Blechkanten zu Reißern führen würde, lässt sich das dargestellte Tiefziehbauteil mit HSC-gefrästen Kanten fehlerfrei herstellen.

Zusammenfassung und Ausblick

Die vorgestellten Untersuchungen zeigen, dass mittels des HSC-Fräsens Formplatinen hergestellt werden können, die eine deutlich geringere Kantenrisssensitivität im Vergleich zu konventionell schergeschnittenen Blechbauteilkanten aufweisen. Experimentell durchgeführte Diaboloversuche haben gezeigt, dass mit dem HSC-Verfahren hergestellte Blechbauteilkanten sogar geringere Kantenrisssensitivitäten aufweisen als mit Wasserstrahl oder Lasterstrahl beschnittene Bauteilkanten. Letztere wurden hinsichtlich der Kantenrisssensitivität von Blechbauteilkanten bis heute als Optimum bezeichnet.

Literatur

[Aut19] AutoForm Users Manual (Edge Cracks and Sheet results), 2019

[Bai16] Baier, T.; Woestmann, S.: Berücksichtigung von schergeschnittenen Blech-kanten zur Auslegung von Formgebungsprozessen höherfester Stahlwerkstoffe in der FEM-Umformsimulation, 14. Deutsches LS-Dyna Forum, 10.-12. Oktober 2016, Bamberg.

[Bec13] Bechert, A., Leutemann, D.: Verfahren zum Handhaben von plattenförmigem Schneidgut an einer Schneidmaschine, Patentschrif, angemeldet durch MN Coil Servicecenter GmbH, 2013, Veröffentlichungsnummer: EP 2 886 220 A1.

[Dit17] Dittmann, F., Pätzold, I.; Einfluss der Kantenbearbeitung auf die Festigkeitseigenschaften von Stahl-Feinblechen unter quasistatischer und schwingender Beanspruchung, Forschungsvereinigung Automobiltechnik e.V., FAT-Bericht Nr. 306, 2017.

[Doe10] Doege, E.; Behrens, B.: Handbuch Umformtechnik – Grundlagen, Technologien, Maschinen, Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2010, ISBN 978-3-642-04248-5.

[Fed18] Fedorko, M., Urbanek, M., Machalek, J.: Determination of edge strain in DP steel sheet for predicting edge cracking, 5th International Conference Recent Trends in Structural Materials, IOP Conf. Series: Materials Science and Engineering 461 (2019) 012020.

[Fei16] Feistle M., Golle, R., Volk, W.: Determining the influence of shear cutting parameters on the edge cracking susceptibility of high-strength-steels using the edge-fracture-tensile-test, Procedia CIRP 41, pp. 1078-1083, 2016

[Glä13] Gläsner, T. et al.: Zweistufiges Scherschneiden reduziert die Kantenrissempfindlichkeit, www.umformtechnik.net.

[Hab19] Habibi N, et al.: The effects of shear affected zone on edge crack sensitivity in dual-phase steels, International Deep Drawing Research Group 38th Annual Conference, IOP Conf. Series: Materials Science and Engineering 651 (2019) 012073.

[Han13] Hance, B., Comstock, R. J., Scherrer, D. K.: The Influence of Edge Preparation Method on the Hole Expansion Performance of Automotive Sheet Steels, SAE Technical Paper, 2013

[Hel09] Held, C. et al.: Untersuchungen zum Einfluss der Verfestigung von schergeschnittenen Kanten auf folgende Umformprozesse, UTFscience, www.utfscience.de, 2009.

[Hen13] Henn, P.: Ermittlung der Kantenrisssensitivität von 22MnB5 in gehärtetem Zustand, Bachelorarbeit, Institut für Umformtechnik, Universität Stuttgart, 2013

[ISO17] BS ISO 16630:2017, Metallic materials. Sheet and strip. Hole expanding test.

[Lan90] Lange, K. (Hrsg.): Umformtechnik - Handbuch für Industrie und Wissenschaft. Band 3: Blechbearbeitung. Berlin Heidelberg New York Tokio: Springer Verlag, 1990, 3. Auflage.

[Lie13] Gall, M; Liewald, M.: Experimental investigation of the influence of shear cutting parameters on edge crack sensitivity of dual phase steels, IDDRG 2013, Zürich; Schweiz, 2013

[Mor10] Mori, K.-I.; Abe, Y.; Suzui, Y.: Improvement of stretch flangeability of ultra high strength steel sheet by smoothing of sheared edge, Journal of Materials Processing Technology, S. 653-659, 2010Insitut

Foto: IFU / MN Coil Servicecenter
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